Ein Tuch in knallorange, freundliches Kopfgetätschel, aufregendes Soukgewimmel und eine Handvoll struppiger Störche – das ist Marrakesch aus der Kinderperspektive.
Wir reisen den Störchen entgegen, um Kamele, Schlangen und anderes Getier zu treffen. Schieben uns auf der Suche nach ungewohnten Blickwinkeln und kleinen Abenteuern durch Gassen und Gässchen, stürzen uns ins Gewimmel, um zur Ruhe zu kommen. Wir sind in Marrakesch. In einer Stadt, die gar nicht so leicht auf einen Nenner zu bringen ist, in der es staubt und glitzert, die sich dem Fortschritt verpflichtet, dabei in alle Richtungen ausbreitet und einen trotzdem immer wieder aus der Zeit wirft. Es ist eine Stadt der Sehnsüchte, der Widersprüche und des Gleichzeitigen, irgendwo zwischen Europa und Afrika, zwischen verschiedenen Interessen und Glaubenssätzen, zwischen Kelim-Folklore und ernstgemeinten Fluchtbewegungen – eingeklemmt zwischen Gestern und Morgen.

Dieser Text erschien zuerst im Focus, Ausgabe 33/18 (www.focus-magazin.de).
Hier sind wir also, in diesem Marrakesch, und unser Reiseleiter ist ein Dreijähriger. Er heißt Felix und hat eine Mission. Nur wenige Wochen zuvor hat er ein Buch in die Hände bekommen, ein Buch über Störche. Und die, so lehrte uns die Lektüre, erholen sich im Winter in Nordafrika und brüten im Sommer in Mitteleuropa. Ihre Reiseroute verläuft unserer diametral entgegengesetzt, also – Achtung: Kleinkinderlogik – könnten wir sie doch einfach in Marrakesch abholen. Und, tatsächlich, wir werden zu den Störchen kommen, zuvor müssen wir aber noch eine andere Welt entdecken.
Der Schritt raus aus dem Menara Airport zeigt davon erst einmal nicht viel. Zu sehen ist bloß klassische, internationale Betonwüste, Parkplatzweiten, Neubauten. Doch bereits auf der Fahrt in die Stadt geht es los: Kamele lümmeln wie bestellt an der Ecke herum, die alte Stadtmauer windet sich an der Straße entlang, der Turm der Koutoubia, der wichtigsten Moschee der Stadt, schraubt sich in die Höhe. Die Eltern zeigen aus dem Fenster, sagen „Schau!“ und „Da!“, der warme Wind kommt aus der Sahara. Wir erreichen den berühmten Djemna el fna, den Platz der Gehängten, der Gestrandeten, der Geschichtenerzähler und das Kind schläft ein. Lektion Nummer 1: Reisen ist anstrengend. Und alles hat seine Zeit.
Das Neue, das Alte und alles dazwischen.
Wir verbringen die folgenden Tage in der Medina, der Altstadt, und die ist vollbehängt mit Tüchern und Teppichen, Spiegelchen und Strohhüten, gusseisernen Lampen und müffelndem Leder. An den hübsch drapierten Keramiken huschen Katzen vorbei, die alle miteinander verwandt scheinen. Alles ist dicht an dicht und drängt, die Mopeds, die hier im Souk angeblich verboten sind, genauso wie die Haben-Wollen-Impulse bei Felix. Holzschlangen, kleine Kamele, handgeschnitzte Kochlöffelchen, im Minutentakt passieren wir neue Begehrlichkeiten. Und das ist gar nicht so schlecht, denn der Kitsch schlägt Brücken für das Kind, ist eine Art Kontaktmittel, das es ankommen lässt in der ungewohnten Umgebung.
Dabei verläuft das Leben nicht nur entlang der belebten Gassen, es findet drinnen und draußen statt, genauso wie obenauf: Auf den Dächern der Stadt. Hier sind nicht nur Wohnräume, Kakteengärten, Sat-Schüsseln, Waschmaschinen, sondern auch die Cafés und Bars, Aussichtspunkte und Wohlfühl- Lounges. Berühmt ist immer noch das Café des Epices, weil die Betreiber einst Pionierarbeit geleistet haben, als sie sanft an der traditionellen Medina-Ästhetik geschraubt haben und sie damit jung, modern und vor allem leicht zugänglich wirken ließen. Hier und anderswo isst man nun Salate und Sandwiches, genauso wie Tajine und Cous Cous und Felix immer wieder Melaoui – eine Art frittierter Crepe – mit Honig zum frischgepressten Orangensaft. Das Kind wird also auch in Marrakesch satt, Angst vor Zucker darf man freilich keine haben.
Kinder sind immer willkommen
Mit einem Kinderwagen kommt man nicht weit. Das ist Lektion Nummer 2. Mit ihm schafft man es weder über wackelige Stiegen in die oberen Etagen, noch halbwegs entspannt durch die Souks. Auch für etwas größere Kinder empfiehlt es sich also eine geeignete Tragehilfe einzupacken, nicht nur wegen den immermüden, kleinen Beinen, sondern vor allem weil sich die Eindrücke so in sicherer Distanz und dennoch auf Augenhöhe verarbeiten lassen. Tagelang hängt Felix also am vertrauten Rücken, sieht von hier aus Yves Saint Laurents berühmte Kreationen, die breiten Boulevards von Gueliz, schicke Conceptstores und die Schlangen, die ihren Job am Djemna el-Fna machen. Vor allem sieht er aber die Menschen, die ihm immer und überall mit einem Lächeln, mit einem freundlichen Wort, ja, manchmal auch mit einem Keks begegnen.
Auf den ersten Blick wirkt die Stadt nicht besonders kindertauglich (Hitze, steile Treppen, verrückter Verkehr, Gewusel), schnell stellt sich aber heraus: Genau das Gegenteil ist der Fall. Denn Kinder sind einfach überall, mittags am Platz und spätabends im Restaurant, sie spielen auf den Straßen der Wohnviertel Fussball, schäkern frech-freundlich mit den Touristen. Was aber besonders auffallend ist: Die Erwachsenen begegnen ihnen mit ehrlichem Wohlwollen, die ständige „Pst“- und „Nicht anfassen“-Diktion, die einen in Europa oft begleitet, fällt komplett weg. Das macht das Leben natürlich auch für Eltern einfacher.
Auch bei Felix kommt das sichtlich gut an und irgendwann zwischen Tag vier und fünf unserer Reise wird der Souk zu seinem natürlichen Habitat. Während wir immer noch instinktiv die Händler meiden (sie könnten uns ja etwas verkaufen wollen!), bleibt Felix überall stehen, bewundert die Waren, schließt allerorts kleine Freundschaften. Und wir hinterher. Er wird gedrückt und geherzt, viele, viele Bussis werden auf Stirn und Wange gedrückt und merkwürdiger Weise scheint ihn das gar nicht zu stören. Beim Händler ums Eck wird er besonders regelmäßig vorstellig und irgendwann verteilt sich plötzlich ein enormes Stück Stoff auf 100 Zentimeter Kind. Ein Tuch in Palästinenseroptik und knallorange. Ein Geschenk, das sich ästhetisch nicht sicher einordnen lässt, diesen Dreijährigen hier aber sehr, sehr glücklich macht.
Und die Störche? Die haben wir auch gefunden. Ihre enormen Nester verteilen sich gut sichtbar auf den dicken, alten Stadtmauern. Sie wären kurz davor ihre jährliche Reise in den Norden anzutreten, hören wir. Wer weiß, vielleicht treffen wir einander ja tatsächlich wieder, an einem Sommertag am Neusiedler See. Die Chancen stehen gut, dass Felix auch dabei noch sein knallorangenes Tuch tragen wird.
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Hab mir all das beim Lesen wunderbar bildhaft vorstellen können! ❤️
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